Henning Eichhorst

Die akademische Gerichtsbarkeit zählte bis ins späte 19. Jahrhundert zu den zentralen Institutionen des europäischen Universitätswesens. Als Ausdruck korporativer Autonomie verlieh sie den Universitäten das Recht, über ihre Mitglieder wie auch über Teile der städtischen Bevölkerung zu richten. In Göttingen, wo sie seit der Gründung 1737 bestand, bildete sie ein wesentliches Element akademischer Selbstverwaltung und rechtlicher Zuständigkeit an der Schnittstelle von Wissenschaft, Recht und sozialer Ordnung. Die Forschung hat diese Institution bislang vor allem unter normativen und disziplinarischen Aspekten betrachtet und dabei häufig auf studentische Devianz fokussiert. Auch Studien zur Studentenkultur richten ihr Augenmerk weiterhin überwiegend auf die organisierte Studentenschaft des 19. Jahrhunderts und Themen wie Politisierung, Duellwesen oder Männlichkeitsrituale, während der breitere soziale Alltag weitgehend unbeleuchtet bleibt. An dieser Stelle setzt das Dissertationsprojekt an. Es nutzt den in Umfang und Dichte einzigartigen Bestand des Göttinger Universitätsarchivs, um die akademische Gerichtsbarkeit in ihrer Endphase zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht nicht allein die Perspektive der akademischen Obrigkeit, sondern die Handlungsspielräume sozial, geschlechtlich und religiös marginalisierter Akteure. Ziel ist es, die Universität als Laboratorium sozialer Ordnung sichtbar zu machen und damit zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zur Erforschung universitärer Institutionen und ihrer Rolle im Übergang zur modernen Gesellschaft beizutragen.